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Grenzen setzen
von Silja de Maddalena I 18.06.2022

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Gefühle, Bedürfnisse & Scham in der Kindheit

Manche von uns haben als Kinder oft erlebt, dass unsere Grenzen nicht wahrgenommen wurden. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn wir sexuell missbraucht oder geschlagen wurden. Es kann auch sein, dass unsere Bedürfnisse nicht gehört und berücksichtigt wurden. Damit meine ich nicht, dass die Bedürfnisse von Kindern grundsätzlich über denen der Eltern stehen sollte und sich Eltern grundsätzlich nach den Wünschen ihrer Kinder richten sollte, sondern, dass wir als Kind im Optimalfall erleben, dass wir gehört und ernst genommen werden.

 

Wachsen wir in diesem Optimalfall auf, lernen wir, unsere eigenen Gefühle als grundsätzlich wichtig und wahr anzunehmen. Wir lernen uns auf sie zu achten. Klar machen wir auch immer wieder die Erfahrung, dass wir Dinge tun müssen oder nicht tun dürfen, obwohl unser Gefühl und unsere Bedürfnisse uns das Gegenteil empfehlen. Aber in einem solchen Fall, können wir durch die Erklärung unserer Bezugspersonen lernen, dass es dabei auch immer um ein Abwägen geht, dass wir manchmal auf gewisse Dinge verzichten sollten, weil etwas anderes im Moment gerade dringender ist, oder dass andere Menschen auch Gefühle & Bedürfnisse haben, die es zu berücksichtigen gilt. Wir lernen aber auch, dass auf unsere Gefühle & Bedürfnisse eingegangen wird, und für sie gesorgt wird. Und, dass es oft Wege gibt, wie wir unseren Bedürfnissen, wenn nicht gerade jetzt und in dieser Form, mit ein wenig Verzögerung oder in einer anderen Form, nachkommen können.

 

Im Nicht-Optimalfall hingegen lernen wir, dass es oft schmerzhaft ist, wenn wir die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen, da ihnen nicht oder nur selten entsprochen wird. Als Kind sind für uns die Beziehung zu unseren Bezugspersonen aber lebensnotwendig. Deshalb wollen wir sie um jeden Preis schützen und reagieren oft so, dass wir lernen, uns gar nicht mehr auf unsere Gefühle und Bedürfnisse zu achten und sie wahrzunehmen. Sie sind offenbar falsch - und wir wollen nicht falsch sein. Wir fangen an, Scham für unser „So- sein“, für unsere Gefühle & Wahrnehmungen zu empfinden. Stattdessen entwickeln wir ausgezeichnete Fähigkeiten zu erahnen, was unsere Bezugspersonen für richtig & falsch halten, und uns entsprechend zu verhalten. Wenn wir uns nach den Wünschen und Bedürfnissen unserer Bezugspersonen verhalten, bekommen wir Liebe & Anerkennung, oder werden zumindest nicht gescholten bzw. ignoriert. Und mit der Zeit verlieren wir immer mehr den Zugang zu unserem Herzkompass.

 

Der Herzkompass

Wir Menschen besitzen ein wunderbares Hilfsmittel: den Herzkompass. Mit seiner Hilfe fühlen wir genau, was uns gut tut und was nicht, was wir wollen und was nicht. Mit was wir umgehen können und mit was nicht.

 

Die meisten Menschen beschreiben es als öffnende oder einengende Empfindung im Herzraum. Auf diesen Herzkompass können wir uns verlassen. Er zeigt uns immer unsere eigene innere Wahrheit.

 

Wir brauchen jedoch auch zu berücksichtigen, dass unsere innere Wahrheit stark beeinflusst ist. Beeinflusst von unseren Glaubenssätzen, unseren Werten und unseren Ängsten. Deshalb ist es auch so sinnvoll, uns mit diesen Faktoren auseinander zu setzen.

Damit wir eine Bewusstheit darüber entwickeln, was wir beim „Lesen“ unseres Herzkompasses miteinbeziehen sollten, und wie wir ihn interpretieren können. Persönlichkeitsentwicklung...

 

Und wir brauchen zu berücksichtigen, dass unsere eigene innere Wahrheit wegen dieser Beeinflussung nicht die einzig richtige Wahrheit ist. Für andere Menschen mit anderen Glaubensätzen, Werten und Ängsten gelten unter Umständen andere innere Wahrheiten, und diese sind für sie genauso richtig.

 

Je besser wir unsere Gefühle & Bedürfnisse wahrnehmen, ernstnehmen und interpretieren können, je klarer sind für uns auch unsere inneren Wahrheiten und Grenzen. Wägen wir sie dann mit denen unserer Gegenüber ab, können wir liebevolle Entscheidungen treffen.

 

Wie Scham & Ängste unser Grenzen-setzen beeinflussen

Hier kommt nun der Faktor „Kindheit“ hinzu. Empfinde ich meine wahrgenommenen Grenzen als richtig und wichtig? Oder sagt mir meine Scham, dass ich wahrscheinlich völlig daneben liege? Oder sowieso ein schlechter Mensch bin, überhaupt so zu empfinden? Scham bringt mich dazu, die eigenen Grenzen als unrichtig und unwichtig zu empfinden, bzw. sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Ist das der Fall, werde ich meine Grenzen kaum klar kommunizieren oder gar dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Mit diesem Verhalten überschreite ich meine eigenen Grenzen selbst immer wieder.

 

Habe ich in der Kindheit die Erfahrung gemacht, dass ich ignoriert werde (= gefühlt: verlassen werde) wenn ich Grenzen setze, ist es wahrscheinlich, dass ich später aus Angst vor dem verlassen werden, meine Grenzen nicht klar kommuniziere oder mich gar für sie einsetze. Lieber überschreite ich selbst meine Grenzen als Gefahr zu laufen, dass mein Gegenüber mich nicht gut findet und vielleicht gar verlässt.

 

Oder vielleicht habe ich auch gelernt, dass ich nur dann Liebe & Anerkennung bekomme, wenn ich Grossartiges leiste. Wenn ich der Beste, Schnellste, Gewissenhafteste, Schlauste etc. bin. Ich werde dann später immer wieder über meine eigenen Grenzen gehen, um zu Leisten und dadurch mehr Liebe & Anerkennung zu erhalten.

 

Es ist auch nicht immer nur schlecht, über eigene Grenzen zu gehen. Wenn es sich zum Beispiel um Grenzen meiner eigenen Komfortzone handelt, macht es durchaus Sinn, diese immer mal wieder auszuweiten. Weil sonst mein Lebensspielraum immer enger wird. Oder wenn ich Sportler bin, versuche ich auch immer wieder, meine eigenen Grenzen zu sprengen. Dadurch kann ich höhere Leistungen erzielen. Es ist eine Frage des Masses. Ich sollte gut darauf achten, wann es für mich, für meine Familie oder mein Umfeld, belastend und ungesund wird.

 

 

Weshalb sollte ich Grenzen setzen?

Wenn ich mich immer wieder selbst übergehe, mich selbst nicht ernst nehme und meine eigenen Grenzen überschreite, hat das für mich Folgen. Zum einen werden auch andere Menschen so mit mir umgehen, wie ich es ja selbst tue, zum andern verliere ich stetig Energie. Ich werde mich vermutlich immer wieder mal ausgenutzt fühlen. Ich werde oft für alles und jeden umher rennen, links und rechts fremde Bedürfnisse erfüllen, während mir kaum Zeit & Energie für mich selbst bleibt. Ich werde mich immer weniger gesehen und gehört fühlen. Werde mit der Zeit meine Lebensfreude und -energie verlieren. Vielleicht kommt es gar soweit, dass ich irgendwann eine Burn-out-Diagnose bekomme oder Schlimmeres.

 

Wie ich lernen kann, meine Grenzen wieder besser wahrzunehmen und mich für sie einzusetzen

Der erste Schritt dabei ist, die eigenen Grenzen überhaupt wahrnehmen zu lernen. Ein kurzes innehalten, in mich reinfühlen. Meine inneren Zeichen lesen lernen. Meinen Herzkompass befragen. Immer wieder, mehrmals täglich, jeden Tag.

 

In einem weiteren Schritt geht es darum, mich mit meinen Ängsten bzw. meiner Scham auseinander zu setzen. Weil die mir oft im Weg stehen, meine Grenzen zu kommunizieren. Das zeigt sich, indem ich so „lauwarme“, unklare Aussagen mache. Ich hoffe oder erwarte, dass mein Gegenüber meine Grenzen von selbst erahnt und sich danach richtet. Passiert das nicht, empfinde ich das Gegenüber als unsensibel oder egoistisch, mache die Faust im Sack aber spiele mit, und überschreite damit meine eigenen Grenzen. Ich bin mir das ja auch gewohnt, kann damit besser umgehen als die Gefahr einzugehen, jemanden zu enttäuschen und vielleicht verlassen zu werden.

 

Ich brauche zu lernen, mich nicht immer wieder von meinen Emotionen der Vergangenheit im Hier und Jetzt leiten zu lassen. Dazu brauche ich meine Muster, die mich dazu anhalten, immer wieder die eigenen Grenzen zu überschreiten, zu erkennen.

 

Habe ich diese mir nicht mehr dienlichen Muster erkannt, geht es darum, eine Pause zu erarbeiten. Eine Pause zwischen Emotion und Reaktion. In dieser Pause brauche ich mich von meinen kindlichen Anteilen zu disidentifizieren und mich mit meinem Zentrum zu indentifizieren. Im Hier und Jetzt. Das eröffnet mir mehr Reaktionsmöglichkeiten - wovon eine sein könnte, meine Grenze klar zu kommunizieren (da ich dann aus meinem Zentrum im Hier und Jetzt statt aus meinen Emotionen aus der kindlichen Vergangenheit heraus reagieren kann).

 

Je klarer und selbstbewusster ich meine Grenzen kommuniziere, je grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Gegenüber sie respektiert und einhält.

 

Da solche Muster meist sehr tief in unserer Persönlichkeit verankert sind, ist deren Veränderung ein für uns recht aufwändiger und manchmal schmerzhafter Vorgang. Wir werden dabei oft auch von „blinden Flecken“ behindert, und deshalb kann es hilfreich bis notwendig sein, dass wir diesen Weg nicht alleine gehen, sondern uns professionell begleiten lassen.

 

Doch wenn wir uns auf diesen Weg machen, winkt eine grosse Belohnung: unsere Palette an Wahlmöglichkeiten wird sich stark erweitern und wir werden einen klaren und erfüllenden Umgang mit andern Menschen haben. Wir lernen uns in diesem Prozess selbst besser kennen, lernen unserer inneren Weisheit zu vertrauen und unseren Herzensweg zu gehen, was uns bedeutend mehr Energie & Lebensfreude zur Verfügung stellt. Wir lernen, unser Leben selbst zu gestalten, anstatt ihm ausgeliefert zu sein.

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